„Ich habe wirklich ÜBERALL gesucht und NICHTS gefunden!“ 

... entschuldigte sich einst eine Schülerin bei mir, nachdem sie ein ziemlich inhaltsleeres Referat gehalten hatte. Auf meine Frage nach ihren Quellen offenbarte sie mir: Wikipedia und Google. Ob sie mal in Erwägung gezogen habe, ein Buch aufzuschlagen? - Betretenes Schweigen.

Die Situation ist symptomatisch. Ich begegne ihr auch ständig, wenn ich in irgendwelchen Fragenforen unterwegs bin. Nun kann man mit Recht fragen, warum ich mich durch ein dämliches Fragenforum wühle, und ich könnte entschuldigend etwas von angeborenem Oberlehrerverhalten, Profilneurose oder Hilfsbereitschaft erzählen, aber im Grunde geht es mir jetzt hier um etwas ganz anderes.

Die typische Überschrift im Fragenforum enthält die Zeile:

„Hilfe!!! DRINGEND!!!! BITTE SCHNELL ANTWORTEN!!!“

Welch aussagekräftige Themenangabe!

Als ob 73 Ausrufezeichen und die verzweifelte Versalienorgie den potentiellen Informanten irgendwie zu hilfreicheren Antworten anfeuern könnten!

Im Text folgt dann ausformuliert die eigentliche Frage, oft in verstümmeltem Deutsch, ohne Satzzeichen und ohne Großbuchstaben (die haben ja eine andere Funktion), in unvollständigen Sätzen und manchmal überhaupt völlig unverständlich - bis auf die stete Beteuerung, man habe ALLES durchsucht, ÜBERALL gegooglet (meist falsch geschrieben) und verstehe in Wikipedia NICHTS, weil das ja alles viel zu kompliziert sei, und das ja überhaupt KEIN MENSCH verstehen könne.

Wahrscheinlich wird man es sich als Mensch ohne bildungspolitisches Sendungsbewusstsein sparen, auf die Möglichkeit des Bücherlesens hinzuweisen. Manche Menschen finden offensichtlich Gedrucktes uncool, vielleicht inhaltlich und technisch per se veraltet, oder sie sind den Umgang mit Papier schlicht nicht mehr gewöhnt. Vielleicht haben sie das Vertrauen in die Zuverlässigkeit gedruckter Werke verloren, als sie vergeblich versucht haben, unterstrichene Wörter anzuklicken. Vielleicht sind sie irritiert, weil sich die Seite nicht auf ein Fingerwischen hin umblättert und das Papier von außen beleuchtet werden muss.

Ich weiß es nicht.

Wahrscheinlich ist ihnen vor allem im Kindesalter nicht vermittelt worden, dass Bücher Portschlüssel in abenteuerliche, fantastische, spannende Welten sind: Man fasst sie an, kann sie nicht loslassen, wird von ihnen angezogen, aufgesogen, stürzt hinein und verliert den Bezug zur Realität, gerät ins Träumen. Bücher machen süchtig.

Wer Bücher liebt und den Umgang mit ihnen gewöhnt ist, wird auch nie ein e-book wollen. Ein Buch hat ein Gesicht, ein Gewicht, einen Duft nach Staub, nach Druckerschwärze, nach altem oder neuem Papier, es ist klein oder groß gedruckt, mit engem oder breitem Satzspiegel, die Typen sind kantig oder geschmeidig, altmodisch oder modern, mit Serifen oder ohne. Das Papier ist grob oder glatt, weiß oder gelblich, leicht oder schwer. Vom Einband gar nicht zu reden: seine Textur liegt in der Hand, Leinen, Pappe, geprägt, mit glattem Schutzumschlag, vielleicht auch aus altem Leder oder Pergament. Jedes Buch ist anders, unverwechselbar, einzigartig.

Gewiss, werden jetzt manche Googlefetischisten einwenden, aber wenn es nicht um Unterhaltung geht sondern um knallhartes Wissen ... da sind Bücher doch veraltet, bevor sie erscheinen, oder nicht? Gibt nach dem Brockhaus jetzt nicht sogar schon die renommierte Encyclopaedia Britannica ihre Printausgabe auf?

Ja, das ist richtig. Und es ist traurig. Und ich fühle mich auch ein wenig mitschuldig, weil auch ich allzuoft und gerne etwas in Wikipedia nachschaue. Das ist schnell, umfassend, aktuell, zuverlässig.

Aber manchmal gehe ich auch bewusst zum Regal, ziehe den entsprechenden Band des „Meyer“ heraus und blättere mich zum Stichwort durch. Auch wenn der Artikel dann meist viel knapper ausfällt, als ich es aus dem weltweiten Selbstbedienungsladen gewöhnt bin. Was mir aber Wikipedia nicht bieten kann, ist das Hängenbleiben beim Blättern. Ein Beispiel: Ich suche die Zusammensetzung von Kaolin. Beim Aufschlagen der Seiten lande ich zunächst bei J. „Jütland“. Kurz bleibe ich kleben und bin neugierig, ob mich meine Erinnerung bezüglich dessen geographischer Lage nicht trügt. Weiter über „Karst“. Zu weit. Das Foto einer Höhle hindert mich am Weiterblättern. So schnell kann man nicht wegschauen, wie der Blick haften bleibt. Ich reiße mich los, klebe an „Kant“ fest - das war doch der in Königsberg? Der mit dem Senf? - und erreiche erst nach vier weiteren Stationen mein Ziel. Ich erinnere mich, wie ich mich in meiner Kindheit oft stundenlang hemmungslos im Lexikon habe treiben lassen. Wer sagt da, Nachschlagewerke seien nicht spannend?

Offenbar neige ich dazu, mich vom Hundertsten ins Tausendste treiben zu lassen, q.e.d. ... wo hatte ich begonnen? Richtig! Informationsbeschaffung für ein Referat.

„Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah ...“, wie Goethe (falsch, aber sachlich zutreffend) oft zitiert wird. Es gibt nämlich Seiten, die Informationen maßgeschneidert liefern. Verständlich für Schüler aufbereitet, mit Bildmaterial, so ausführlich, wie es das Vorwissen ermöglicht, so knapp, wie es der Verständnishorizont der jeweiligen Jahrgangsstufe erfordert. Die Themenauswahl: abgestimmt auf den Lehrplan, und dann noch etwas darüberhinaus.

Diese Seiten haben nur einen Nachteil: sie sind für Schüler fast unzugänglich, geschützt durch eine Art psychologische Firewall, terra incognita des Internets, nicht bei Google gelistet und erhalten schon alleine daher fast eine Aura des Mystischen. Eine Art Darknet.

Diese Seiten sind die des Schulbuchs.